m&k, September 2025

Das Märchen vom Präsenzkult und wie Agenturen echte Führungsvielfalt verhindern.

In der Kommunikationsbranche ist man gerne am Puls der Zeit. Wir sind laut, kreativ, wandlungsbereit. Zumindest nach aussen. Doch sobald es um strukturelle Veränderungen geht, die echte Diversität, Inklusion und neue Arbeitsmodelle ermöglichen würden, zeigt sich: Viele Agenturen agieren erstaunlich konservativ. Insbesondere wenn es um Teilzeitmodelle oder Jobsharing auf Führungsebene geht.

«Führung heisst Präsenz»

Das Mantra, das in den Köpfen vieler Agenturchefs (und -chefinnen) offenbar weiterhin zirkuliert: Wer führen will, muss immer verfügbar sein. Wer am Abend nicht mit dem Kunden anstossen kann oder nicht jederzeit Mails beantwortet, gilt als weniger engagiert. Wer sich eine Führungsaufgabe mit jemandem teilt, macht angeblich „nur Mühe“. Und überhaupt: Wie soll das dem Kunden erklärt werden?

Was hier durchscheint, ist nicht nur fehlendes Vertrauen in die Organisation, sondern auch ein massives Vorurteil gegenüber motivierten, bestens ausgebildeten Mitarbeitenden, die nicht bereit sind, sich selbst vollständig der Arbeit zu opfern. Wer sein Kind um 17 Uhr von der Krippe abholt oder sich einen Wochentag für Weiterbildung oder Care-Arbeit reserviert, wird als potenzielle Schwachstelle gesehen. Nicht als Ressource. Nicht als Chance. Sondern als Risiko.

Ein überholtes Denken mit echten Konsequenzen

Dabei ist längst belegt, dass flexible Arbeitsmodelle, wenn sie gut geführt sind, nicht zu Leistungseinbussen, sondern zu höherer Loyalität, geringerer Fluktuation und besseren Ergebnissen führen. Andere Branchen haben das verstanden. In Konzernen, Banken oder im öffentlichen Dienst ist Jobsharing auf Führungsebene längst keine Randerscheinung mehr, sondern gelebte Realität. Eine Studie von Anja Karlshaus (2020) fasst es treffend zusammen: „Part-time leadership increases diversity, improves work-life balance and contributes to achieving Sustainable Development Goals (SDGs) – especially when supported structurally and culturally.“ Unternehmen, die auf solche Modelle setzen, berichten von gestärkter Teamkultur, stabileren Führungsstrukturen und einem besseren Employer Branding.

Warum also weigern sich ausgerechnet Agenturen, hier mit gutem Beispiel voranzugehen?

Ich wage eine provokante These: Weil sie es nicht können. Weil viele Agenturen strukturell zu wenig Resilienz aufgebaut haben, um neue Modelle zuzulassen. Weil sie Hierarchie mit Kontrolle verwechseln. Und weil sie es sich zu bequem gemacht haben in einem System, das Überstunden normalisiert und Lebensrealitäten ignoriert.

Mein persönlicher Blick: Qualität statt Präsenzkult

Ich selbst habe keine Kinder. Aber genau deshalb sehe ich das Thema unvoreingenommen. Für mich zählt die Qualität einer Führungskraft, nicht deren Präsenzstunden. Ich hatte das Glück, mit Kolleginnen zu arbeiten, die sich eine Führungsrolle auf einem Grosskunden geteilt

haben, im sogenannten Top-Sharing. Und das mit grossem Erfolg: So gross, dass der Kunde unser Modell später selbst intern übernommen hat, um Rückkehrerinnen eine Perspektive zu bieten.

Das war kein sozialromantisches Experiment, sondern eine durchdachte Lösung mit klarer Rollenverteilung, geteiltem Leadership und hoher Effizienz. Die Zusammenarbeit war verlässlich, professionell und ehrlich gesagt, erfrischend gut. Wenn zwei Menschen sich eine Aufgabe teilen, heisst das nämlich nicht, dass sie nur „halb da“ sind. Es bedeutet oft, dass sie mit doppelter Aufmerksamkeit führen. Und mit echter gegenseitiger Reflexion.

Und trotzdem haben viele die positiven Effekte noch nicht erkannt. Zitat einer Kollegin, in einer Teilzeitanstellung: «Es gibt ein paar Agenturen, die sich mutig für solche Modelle öffnen aber dann lassen sie es einen spüren. Man hat zwar die Möglichkeit, Jobsharing zu machen, aber auch ständig das Gefühl, sich dafür rechtfertigen zu müssen.»

Auch das gehört zur Wahrheit: Wer Teilzeitmodelle zähneknirschend ermöglicht, aber ständig spüren lässt, dass dies eine Ausnahme sei, schafft keine echte Kultur der Gleichwertigkeit. Und vergibt damit die Chance, Talente langfristig zu binden.

Natürlich ist mit solchen Modellen in der Anfangsphase ein gewisser Koordinationsaufwand verbunden. Dieser Punkt ist berechtigt. Was dabei aber oft vergessen geht: Der Mehraufwand muss nicht beim Team oder den Vorgesetzten hängen bleiben. Und das war bei uns auch nie der Fall. Die Kolleg:innen in Teilzeit und/oder Jobsharing haben sich eigenverantwortlich organisiert, ihre Übergaben professionell abgestimmt und intern wie extern für Klarheit gesorgt. Sie haben den organisatorischen Zusatzaufwand bewusst selbst getragen, aus einem professionellen Selbstverständnis und einem ausgeprägten Verantwortungsbewusstsein heraus, das dem Modell nicht weniger Qualität, sondern mehr Struktur abverlangt hat.

Was wir endlich überwinden müssen

Der Glaube, Teilzeit sei gleichbedeutend mit Teilverantwortung, ist ein Denkfehler. Ebenso wie das Märchen, dass Kunden keine geteilte Führung akzeptieren würden. In Wahrheit stört sich kein Kunde daran, dass eine Projektleiterin an einem bestimmten Wochentag nicht verfügbar ist, wenn die Struktur stimmt, die Kommunikation klar ist und das Commitment spürbar bleibt.

Dabei ist das Kundenargument längst widerlegt: Laut IÉSEG Insights (2025) setzen rund ein Drittel der grossen Unternehmen in der Schweiz, Grossbritannien und den USA bereits heute auf geteilte Führungsrollen und berichten durchwegs von hoher Akzeptanz bei Kund:innen, solange Struktur, Kommunikation und Verlässlichkeit gegeben sind.

Das eigentliche Problem liegt nicht im Modell. Sondern im mangelnden Willen, sich mit den Anforderungen einer neuen Arbeitsrealität ernsthaft auseinanderzusetzen. In der Annahme, dass Flexibilität automatisch Kontrollverlust bedeutet.

Und dennoch: Es gibt Hoffnung

Es gibt sie, die Agenturen, die offen sind. Die auf Qualität statt Präsenz pochen. Die begriffen haben, dass Vielfalt nicht nur ein Buzzword ist, sondern ein Wettbewerbsvorteil. Dass Menschen, die ausserhalb der Arbeit ein Leben haben (müssen oder wollen), keine Belastung, sondern oft die besseren Führungskräfte sind: organisierter, fokussierter, empathischer.

Diese Agenturen schaffen Rahmenbedingungen, in denen sich Menschen entfalten können, ohne sich dafür entschuldigen zu müssen. Sie setzen auf Vertrauen statt Kontrolle. Auf Dialog statt Vorgabe. Und sie gewinnen damit nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch bei ihren Kund:innen.

Was es dafür wirklich braucht

Gelingendes Jobsharing ist kein Selbstläufer. Es braucht Offenheit aber auch Struktur. Klare Rollen, definierte Übergaben, transparente Kommunikation. Doch das ist keine Schwäche des Modells, sondern seine Stärke: Es zwingt zur Klarheit. Wer Top-Sharing einführt, kann sich nicht hinter impliziten Machtstrukturen oder vagen Zuständigkeiten verstecken. Und genau da wird es unbequem: nicht für die Tandems, sondern für die Organisationen selbst.

Denn wer Jobsharing ermöglicht, muss lernen, Kontrolle abzugeben. Muss sich verabschieden vom Bild der einen Führungsperson, die alles allein entscheidet. Muss auch aushalten können, dass verschiedene Sichtweisen produktiv aufeinandertreffen. Führung wird dadurch nicht diffuser, sondern präziser. Nicht schwächer, sondern transparenter.

Und ja, das ist anspruchsvoll. Aber nicht, weil die Menschen es nicht können, sondern weil viele Systeme noch nicht bereit sind, ihnen zu vertrauen.

Agenturen: bitte schaut genauer hin

Ich finde es manchmal beschämend, wie schlecht über dieses Thema gedacht und gesprochen wird, selbst von Frauen in Führungspositionen. Wer Teilzeitkräfte auf oberster Ebene per se ausschliesst, entscheidet sich bewusst gegen Diversität. Wer Jobsharing als „zu kompliziert“ abtut, entscheidet sich gegen Potenzialentfaltung. Und wer glaubt, dass sich ambitionierte Fachkräfte auf Dauer mit diesen Bedingungen zufriedengeben, wird bald keine mehr finden.

Ein Plädoyer für den Reality-Check

Wenn Agenturen im Kampf um Talente, Kund:innen und Relevanz bestehen wollen, brauchen sie mehr als hübsche Employer-Branding-Slides. Sie brauchen den Mut, veraltete Denkmuster zu hinterfragen und sie durch neue, faire, intelligente Modelle zu ersetzen. Modelle, die Teilzeit nicht als Kompromiss, sondern als Stärke begreifen. Die Jobsharing nicht als Notlösung, sondern als bewusste Wahl führen. Und die nicht erwarten, dass Menschen sich dem System anpassen, sondern das System so gestalten, dass Menschen darin aufblühen können.

Und übrigens: Dieses Thema betrifft nicht nur Frauen. Es wäre an der Zeit, dass auch mehr Männer den Mut haben, Führungsverantwortung in Teilzeit zu übernehmen: nicht als Ausnahmemänner, sondern als Mitgestalter einer zeitgemässen Arbeitskultur. Solange Flexibilität nur als weibliches Anliegen gilt, bleibt Gleichstellung eine Illusion.

Let’s walk the talk. Es wird Zeit.

Der Originalartikel findet sich hier https://www.markt-kom.com/de/abo/wer-teilt-fuehrt-nicht/

Bild: unsplash

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